Selbstbestimmter Suizid
Veetman über aktive Sterbehilfe, assistierten Suizid
In Würde sterben
Interview mit Veetman In letzter Zeit behandeln die Medien immer öfter Themen wie „Suizid", „assistierte Selbsttötung“ und „aktive Sterbehilfe“. Und immer häufiger treten massive Forderungen nach neuen gesetzlichen Regelungen auf. Unsere Gesellschaft muss sich jetzt mit Selbsttötung, würdevollem Sterben und den Dogmen traditioneller Religionen auseinandersetzen. Denn diese Themen betreffen jeden von uns. Einige europäische Länder haben die Gesetze schon geändert. Immer mehr Todkranke fahren ins Ausland, wo sie mit Hilfe anderer freiwillig sterben können – weil sie nicht Opfer der Apparatemedizin werden möchten oder ihr körperliches Leiden jede Lebensqualität zunichte macht. In einigen Ländern dürfen selbst Ärzte unter bestimmten Umständen bei einer Selbsttötung assistieren. Mehr und mehr Menschen outen sich, berichten darüber, dass sie geliebten Angehörigen aktive Sterbehilfe geleistet haben, deren unerträgliches körperliches Leiden keine Aussicht auf Verbesserung gab. Assistierte Selbsttötung und aktive Sterbehilfe ist in Deutschland bisher strafbar. Im Ausland bieten einige eher zweifelhafte Organisationen ihre Hilfe bei der Selbsttötung an – was aber auch viele Ängste über Missbrauch weckt. Der Mensch wünscht sich einerseits die Freiheit selbst zu entscheiden, wie viel Schmerz und Leiden er ertragen möchte, will aber auch keine falsche Entscheidung treffen oder anderen diese letzte Entscheidung über Leben und Tod aufbürden, falls er selbst nicht mehr dazu in der Lage sein sollte. Sukhi hat Veetman zu diesem Thema interviewt. Es gibt offenbar verschiedene Kategorien von Menschen, die sich selbst töten. Wann ist deinem Gefühl nach Selbsttötung vertretbar, und wann nicht? Fast niemand bringt sich um, weil er nicht leben will. Die meisten Menschen bringen sich um, weil sie zu viel vom Leben wollen, was aber durch äußere Umstände vereitelt wird – sei es durch eine Krankheit, die unheilbar ist oder deren Behandlungs-möglichkeiten erschöpft sind. Man bleibt zurück, nur mit einem vagen Wissen um das, was ein Leben sein könnte. Sie haben noch Bewusstsein und Empfindungen, die sind von Schmerz, Erschöpfung, Depression und Unglück erfüllt. Meinem Gefühl nach, wollen sich viele aus Ungeduld töten, aus einer Depression heraus. Wir alle wissen, dass sich das Denken wie das Wetter verändert, die Wolken teilen sich, und unerwartet scheint die Sonne wieder. Es gibt Alternativen. Und solange es die gibt, ist Selbsttötung einfach sehr voreilig. Wenn man jedem, der mit eine tödlichen Diagnose hat, eine Flasche mit blauen Pillen gäbe, und ihnen sagte: „Wann immer du willst, kannst du diese Pillen nehmen“ – sie würden länger leben und gar wieder gesund werden! Mit der Möglichkeit, jederzeit auszusteigen, könnten sie um 4 Uhr morgens sagen: „Ich will es noch einen Tag länger aushalten, denn mir bleibt ja immer noch dieser Ausweg.“ Die Rede ist vom seelischen Schmerz, von dem man gemeinhin glaubt, nur der Tod erlöse davon. Aber Depression kann medikamentös behandelt werden. Doch es gibt gewisse Ebenen körperlicher Schmerzen, und Degenerierung, ohne jede Heilungschancen – wie beim Lou Gehrig Syndrom oder ALS (Amyotrophe Lateralsklerose), und bei fortgeschrittenen Krankheiten, wie z.B. AIDS. Und wer nicht selbst mindestens einen Monat lang nur im Bett gelegen hat, kann nicht wirklich beurteilen, wie es ist, in einem Bett zu liegen, das man nicht selbst verlassen kann: Du kannst vielleicht nicht mehr sprechen. Du kannst vielleicht noch nicht einmal klar denken. Du hast vielleicht niemanden um dich, der dir in schweren Zeiten hilft oder dich berät oder auch nur deine Hand hält, wenn du gehst. Ich verstehe, dass sich diese Menschen ihr Leben nehmen, weil sich ihr körperliches Gefährt nicht mehr in seinen Funktionen aufrechterhalten und das Leben nicht mehr als Leben erkennen lässt. In diesem Fall halte ich es für sehr heikel, ihnen zu sagen, sie sollten es nicht tun. Bist du für Gesetze, die eine assistierte Selbsttötung zulassen? Grundsätzlich ja. Doch die Auseinandersetzung damit hat viele subtile Aspekte. Ich befürworte Selbsttötung nur aus körperlichen Gründen, nicht bei emotionalen oder psychologischen Schwierigkeiten. Das Thema ist heikel und liegt von Fall zu Fall anders. Ich habe Menschen erlebt, die glauben sterben zu müssen, und denen bestimmte Rituale oder spirituelle erlaubten, bewusst zu sterben. Wer weiß schon im Voraus, wann er sterben wird? Nur wer die Todesstrafe erhält, oder sich selbst tötet. Viele Kulturen ehren Menschen, die freiwillig für andere aus dem Leben scheiden, selbst wenn das praktisch Selbstmord ist. Ein großer Zenmeister, Dzogchen, sagte: „Du erzeugst kein Karma dadurch, dass du Selbstmord begehst, sondern, wie du es tust.“ Ein buddhistischer Mönch setze sich in Vietnam auf die Straße und übergoss sich mit Benzin, um die Welt darauf aufmerksam zu machen, dass Hunderttausende von Kindern im Dschungel Vietnams mit Napalm verbrannt wurden. Oder jener 87-Jährige, der sich lieber selbst tötet, als die vierte Chemotherapie anzutreten, weil er weiß, dass diese seine Frau in bittere Armut stürzen würde. Einige Tode sind große Opfergänge. Aber ich bin überzeugt, dass nur wenige Menschen hierzu fähig sind. Ich glaube, dass die meisten Menschen, die sich selbst töten, nur andere bestrafen wollen, bewusst oder unbewusst. Kaum jemand tötet sich mit einer klaren Absicht. Wenn es ein Gesetz gäbe, das assistierte Selbsttötung erlaubt, welche Einschränkungen würdest du fordern? Ich würde die Erlaubnis auf rein körperliche Motive einschränken. Wieso andere Menschen da mit hineinziehen, wenn man sich aus anderen Gründen selbst tötet? Es wird alles sehr kompliziert –menschlich, ethisch und auch rechtlich, wenn man seine Last anderen aufbürdet. Indem wir bewusst bei unserem Leiden bleiben, ist das eine wirkliche Lehre, selbst wenn wir so furchtbar leiden, dass wir an Selbsttötung denken. Worin genau besteht diese Lehre? Schmerz kann uns vieles lehren. Schmerz gehört zum Leben dazu, aber psychologisches Leiden beruht auf Widerstand gegen den Schmerz. Gäbe es keinen Schmerz in der Welt, gäbe es auch kein Mitgefühl. Und ohne diese Erfahrung des Mitgefühls, würden wir unvollständig bleiben. Und Schmerz macht noch etwas anderes. Schmerz lehrt unser Bewusstsein zu trauern. Inmitten des körperlichen Schmerzes können wir die Stimmen von Trauer hören: Misstrauen, Selbstmitleid, ein generelles Gefühl der Bestürzung, der Bodenlosigkeit. Schmerz gibt uns Gelegenheit, an sehr tiefen Dingen zu arbeiten, sie an die Oberfläche zu bringen. Das gibt uns die Möglichkeit, allem, was wir aus uns verbannt haben, mit Mitgefühl und liebevoller Freundlichkeit zu begegnen, statt mit Hass. Schmerz verschafft uns also Zugang zu unserem unterdrückten Leid, sofern wir bereit sind, daran zu arbeiten. Aber man braucht nicht erst auf einen 1000 Kilo schweren Schmerz zu warten, sondern schon mit den täglichen kleinen Schmerzen beginnen, die das Leben einsam oder unerfüllt machen, deine Liebe blockieren oder dich im Selbsthass einsperren. An kleinen Dingen können wir bewusst arbeiten und lernen uns zu befreien. Selbst in unserer inneren Hölle können wir die Fähigkeit zum Mitgefühl erlangen und unser Herz öffnen. Das macht unser Leben wertvoll. Dann wird dir bewusst, dass nicht nur dein eigener Körper von Schmerzen geschüttelt wird. Was, wenn da deine 5-jährigeTochter liegt? Bleibst du präsent? Wie verhinderst du es, dass sich deine Zehen in deinen Schuhen verkrampfen? Dass sich deine Seele nachts nicht zusammenzieht vor Schmerz und Hilflosigkeit? Wie kannst du deinen Bauch entspannen? Wie erhältst du einen liebevollen Kontakt aufrecht, statt dich der Furcht zu überlassen, statt gegen Gott zu wüten? Was ich damit sagen will, ist, dass all diese innere Arbeit nicht nur unserem eigenen Wohlbefinden dient, sondern zum Guten aller lebenden Wesen gereicht. Wie gehst du damit um, wenn einer mit unsäglichem körperlichen Schmerzen zu dir kommt und sagt: „Ich denke daran, mich selbst zu töten?“ Zeigst du ihm die verschiedenen Möglichkeiten auf und erinnerst ihn an seine Freiheit zu wählen? Zu was ermutigst du ihn? Ich zeige Optionen auf und was man bei körperlichen und seelischem Schmerz tun kann. Ich verdeutliche ihm den Wert, mit allem bewusst zu gehen, alles so zu sehen, wie es ist. Hierzu ein Beispiel, bei dem es nicht um den körperlichen, sondern den psychologischen Schmerz geht: Eine Frau kam zu mir und sagte: „In meiner Familie gab es viele Fälle von Alzheimer. In den letzten zwanzig Jahren meines Lebens habe ich für Mutter, Vater, eine Schwester und einen Bruder versorgt. Sie alle bekamen mit etwa fünfzig Jahren Alzheimer. Einer lebte noch elf, ein anderer sieben Jahre. Ich habe mein Leben meiner Familie und Alzheimer aufgeopfert. Jetzt bin ich das letzte Familienmitglied. Ich bin 52 und habe niemals wirklich mein eigenes Leben gelebt. Als mein Vater vor einem Jahr starb, dachte ich, dies sei der letzte, jetzt habe ich mein Leben wieder. Doch dann bemerkte ich einige der Symptome auch bei mir. Es gibt niemanden, der für mich sorgen könnte. Ich werde nicht durch all dies hindurchgehen, irgendwo in einem anonymen Krankenhaus, in einer dunklen Ecke, nach Urin riechen und mein Hemd beschmutzen. Das werde ich nicht tun. Ich habe gesehen, wie es ist und werde mir jetzt das Leben nehmen. Ich will all das nicht aushalten müssen.“ Ich sagte zu ihr: „Warum nimmst du dir jetzt das Leben? Sieh mal, wie lebendig du jetzt in diesem Augenblick bist. Du bist immer noch ein rundweg ambulanter Patient, bist völlig präsent. Du bist zwar etwas vergesslich, aber es ist noch nicht so schlimm, dass du nicht an allen Unterhaltungen teilnehmen könntest. Warum setzt du deinen Geist nicht für Heilung auf der Ebene ein, die dir möglich ist? Lass einfach dieses Wesen, das drauf und dran ist, wegzulaufen und sich zu töten, für eine Weile mit sich selbst allein sitzen. Verbring eine ruhige Zeit mit dir selbst, schau in dein Herz und höre auf das, was man ,die kleine stille Stimme im Innern’ nennt. Und sieh, was deine Seele für deine Heilung tun kann.“ Sechs Monate später sah ich sie wieder und sagte: „Erstaunlich – du lebst noch?“ Sie lachte. Ich fragte „Was hast du gemacht?“ Sie antwortete: „Ich kam in Euer Seminar, um mich danach umzubringen. Aber dann verließ ich es mit der Bereitschaft, eine andere Alternative zu versuchen. Weil du nicht sagtest: ,Bring dich nicht um’, brauchte ich nicht darüber zu argumentieren und konnte es einfach beiseite legen. Mein Herz öffnete sich weiter für andere Alternativen, denn du hast es damals ja auch nicht verschlossen.“ Ich fragte sie: „Was hast du getan?“ Sie sagte: „Ich nahm meine blauen (Selbsttötungs-) Pillen und legte sie in meine schönste Kristallschale auf den Kamin. Daneben legte ich einen Zettel mit den Worten: ,Wenn du nicht mehr weißt, wofür diese Pillen sind, dann nimm sie!‘“ So hat sie es für sich gemacht. Andere Menschen haben andere Wege, damit umzugehen. Aber ich halte es für faschistisch, einem Menschen das Recht zu nehmen, sein/ihr körperliches Leiden selbst zu verringern. Du hast dich viele Jahre mit den Themen Tod, Sterben, Trauer und der entsprechenden spirituellen Bewusstseinstransformation befasst, hast Sterbende begleitet, verzweifelte Todeskämpfe miterlebt und Menschen zur Sterbebegleitung ausgebildet. Was für wesentliche Einblicke in das menschliche Leben hast du dadurch gewonnen? Einen großen Teil meines Lebens habe ich mich mit sterbenden Menschen beschäftigt und dabei erstaunliche Dinge beobachtet: innere Heilung, einen tiefen Frieden erzeugende Lebensrückschau, viel Kreativität und liebevolle, wahre Menschlichkeit. Einige öffneten sich tief greifend für ein bewusstes Leben in Liebe und Meditation und wurden wieder gesund. In mir ist etwas herangewachsen, das ich Mitgefühl nenne, was mir hilft, mein Leben als wirklich sinnvoll zu sehen und mir den Mut gibt, wirklich alles in mir sterben zu lassen, was meiner tiefen Liebe zum Leben und allen Menschen im Wege steht – ich nenne es das Ego. Und noch etwas ist gewachsen: die tiefe Erkenntnis, das Wissen darum, dass meine wahre Natur niemals sterben kann. In dieser Erkenntnis stirbt nur die Angst vor dem Leben. Die Energie, die bisher in Angst gebunden war, verwandelt sich zu Liebe und zur bewusst erfahrenen Einheit mit dem Ganzen. Ich möchte allen, die dafür offen sind, Folgendes sagen: „Es ist wirklich schade, dass diese Einsicht, wenn überhaupt, meist erst am Ende eines Lebens eintritt. Wie wunderbar wäre es, wenn man sie schon mitten im Leben erlangen könnte. Dann wäre auf dem Totenbett nicht so ein Gedrängel nach Leben, nicht so viel Anspannung, so viel Ungesagtes, so viel Zeit- und Leidensdruck bei den Hinterbliebenen – wären da nicht so viele Briefe zu schreiben, so viele Ton- und Videoaufnahmen für alle Beteiligten herzustellen, müsste nicht so viel Wiedergutmachung, so viel Verzeihen geschehen und so viele Meditationen gemacht werden, usw. Warten wir also nicht bis zum letzten Moment, sondern tun wir unsere innere Arbeit jetzt, vor unserem physischen Tod. Schauen wir uns jetzt an, wie es wäre, wenn wir jetzt wüssten, dass wir in einem Jahr sterben. Was würde sich dann in unserem jetzigen Leben verändern? Ich habe gesehen, wie durch Sterbeprozesse Beziehungen geheilt wurden, Kinder, Eltern und Familienmitglieder wieder zusammenfanden, sich vergeben konnten, und Liebende sich wirklich im Herzen begegneten. Es ist wichtig, unsere Aufmerksamkeit auf diese Themen zu lenken, solange wir noch die Kraft, die Wachheit und den Mut dazu haben. Im wirklich letzten Jahr unseres Lebens nimmt unsere Konzentrationskraft oft ab, nicht zuletzt durch Nebeneffekte von Medikamenten, oder die Auswirkungen der Krankheit selbst. Warten wir also nicht, wenn wir ein wertvolles letztes Jahr haben möchten. Unser rationaler Verstand wird die Erkenntnis unserer Vergänglichkeit bis zum letzten Atemzug aufschieben. Die Arbeit daran muss jetzt geschehen. Wir haben dafür wirklich nur die Gegenwart Es kommt eine Zeit, in der du alles auseinanderfallen lassen musst. Wenn du aufhörem musst, für ein Leben zu kämpfen, dem du entwachsen bist, und vertrauen, dass du ok sein wirst,selbst wenn du es jetzt nicht sehen kannst.
Für eine Weile mag alles chaotisch und hart erscheinen, und du fühlst dich vielleicht ängstlich und verloren. Umarme die Angst. Umarme die Ungewissheit. Umarme den Verlust. Der dunkle Tunnel der Veränderung führt zum Licht der Möglichkeit, aber zuerst musst du hindurchgehen. |
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